Mittwoch, 9. Dezember 2009

Kurzgeschichte vom 09.12.2009

Zeit der Seuchen

„Vielleicht wird irgendwann alles wieder wie früher...“ sagte der Vater und wies mit einer resignierten Handbewegung auf die Umgebung. Seine Augen waren glanzlos und seine Stimme hatte diesen Klang, der darauf hinwies daß er sich das Gesagte selbst nicht recht glauben konnte. Neben ihm auf der Bank, vor dem baufälligen Haus, saß sein kleiner Sohn und folgte dem Hinweis der Hand mit seinen Blicken: Die graue staubige Straße- die Stämme, die verdorrte Äste in den trüben Himmel reckten und der verlassene Bau auf der anderen Straßenseite, der vorwurfsvoll mit leeren Fensterhöhlen zu starren schien.
Der Junge konzentrierte sich wieder darauf, harten Schorf von einer alten Wunde auf seinem linken Handrücken zu piddeln. „Lass das,“ sagte der Vater lahm, „sonst entzündet sich alles wieder." - "Diese Wunden hat es früher auch nicht gegeben...“ setzte er müde und wie für sich hinzu und sein Blick wurde momentlang warm, als er dem Jungen sachte über den Arm der kratzenden Hand strich. Der Kleine ließ die Hand sinken und ein schwaches Lächeln glitt über seine Züge, nur ganz kurz. Auch sein Gesicht war mit entzündeten und verschorften Wunden übersät, wie auch seine Arme und die Beine die weißlich aus den zu kurzen Hosenbeinen harausragten. An einem Knöchel war ein dünnes Rinnsal Blut getrocknet, auf dem Weg zu dem halb auseinander fallenden schwarzen Schuh.
Von Ferne näherte sich Motorengeräusch, nichts anderes war zu hören. „Der Doktor kommt.“ bemerkte der Vater und eine Spur Hoffnung durchdrang seine Stimme schwach. Der Kleine griff langsam nach seiner Hand und zog sie ganz nah an sich, während ein plötzlicher Windstoß dürre Blätter, einen alten Joghurtbecher und bunte Papierfetzen über die verlassene Straße trieb. Ein staubiges Auto kam näher, der Lack stumpf und die vordere Stoßstange fehlte. Vater und Sohn erhoben sich, standen still am brüchigen Bordstein, Hand in Hand. Als das Auto anhielt tauchte von der nächsten Ecke ein LKW auf, die offene Ladefläche voller grauer Bleisärge, mit Gurten festgeschnallt, die gefährlich zur Seite schwankten, hochaufgetürmt, als der Wagen mühselig vorbeifuhr. Langsam öffnete sich die Tür des anderen Autos und der Doktor stieg aus, an der Hand eine schwarze bauchige Tasche die wie ein Utensil aus einem alten Film aussah. Mit müden Augen blickte er Vater und Sohn entgegen, während er um das Auto herum auf sie zuging. „Keine Salbe heute, keine Salbe.“ sagte er leise dabei, flüsterte fast. Die Augen des Jungen flackerten auf, voller Angst. Seine verstümmelte rechte Hand, der zwei Finger fehlten, zuckte unwillkürlich zum Gesicht und berührte die entzündete Haut um den Mund herum. „Gibt es noch jemanden, oder...?“ der Arzt ließ die Frage unvollendet und wechselte nur einen kurzen Blick mit dem Vater, der die Augen qualvoll niederschlug. „Dann muss ich leider... du weißt wie schwer mir das fällt...“ murmelte er und ging auf das Haus zu. Er holte etwas rotes aus der Tasche und hing es neben der Tür an einen Haken, etwas wie eine Flagge, die kurz blutrot hochflatterte als erneut ein Windstoß durch die Straße fuhr. Der Joghurtbecher klapperte wieder ein Stück die Straße entlang und der Doktor verschwand in der Tür.
Vater und Sohn hatten sich lediglich umgewandt ohne sich von der Stelle zu bewegen und sahen stumpf zu dem roten Fleck im Grau der Fassade herüber. „Keine Salbe.“ wisperte der Vater und drückte den Sohn mit einer unendlich vorsichtigen Bewegung an sich als ob er ihn wärmen wolle. „Gut daß Mama nichts mehr weh tun kann.“ antwortete der Junge, scheinbar ohne Zusammenhang. Seine Stimme war ohne Bewegung und das verletzte Gesicht schien alt wie die Welt. Der Doktor trat aus dem Haus auf sie zu. „Es tut mir so leid, alter Freund.“ murmelte er und unterdrückte die Tränen die seine Augen plötzlich feucht scheinen ließen. Seine Hand ruhte für einen Moment auf der Schulter des Vaters, „ich muss weiter.“ -
Der Wagen hatte sich lange entfernt und Vater und Sohn standen immernoch am Straßenrand und sahen zum Haus herüber als könnten sie die Kraft nicht aufbringen, wieder hinüber zur Bank zu gehen. Der Junge kratzte sich und frisches Blut erschien auf seiner Wange. Jetzt kam aus der anderen Richtung wieder der LKW näher. Er bremste scharf vor dem Haus und drei Männer sprangen heraus, sie zogen eine längliche Kiste von der Ladefläche und trabten damit zum Haus hin, Mund und Nase von einer Atemmaske bedeckt und Handschuhe an den Händen. Sie beachteten die beiden an der Straße garnicht, zwei verschwanden im Haus und einer postierte sich neben dem Eingang wo er den roten Stoff herunterriss. Er stopfte ihn in die Tasche seines grauen Kittels und blieb dann regungslos stehen, die Augen starr auf das zerfallende Gebäude gegenüber gerichtet. Die zwei anderen erschienen wieder mit der Kiste zwischen sich in der Tür. Alle drei traten schweigend an den LKW heran und der graue Sarg knallte auf die Ladefläche. Die Männer stiegen ein. Der Motor sprang an und das Geräusch entfernte sich rasch und verklang schließlich weit weg.
Bleischwer kam Bewegung in die große und die kleine Person am Gehsteigrand. Sie schlurften zur Bank vor der nackten Wand und ließen sich schwerfällig nieder.
„Alles fing mit dieser gottverdammten Schweinegrippe an, und dann kamen all die anderen Seuchen...“ fluchte der Vater leise, und seine Hände lagen schwer zusammen in seinem Schoß. Der Junge wandte sich ab, in seinem Gesicht mischte sich das Blut brennend mit lauter Tränen.

Ellen am 09.12.2009