Dienstag, 26. April 2011

UNKRAUT

Ruhe ist eingekehrt und der Vater setzt sich auf die Terrasse. Auf der Wiese nebenan arbeitet ein Mann, dessen Gesichtszüge seltsam verformt wirken. Angestrengt müht er sich mit einer einfachen Arbeit: Löwenzahn aus der Wiese entfernen. Seine Zunge erscheint im Mundwinkel und ein dünner Spuckefaden tropft auf das Unkraut. Der Vater wendet sich ab. Er legt die Füße hoch und rückt auf seiner Sitzfläche hin und her bis er eine bequeme Position erreicht hat, dann schließt er die Augen. Die Sonne scheint ihm am Sonnenschirm vorbei ins Gesicht. Er spürt die Wärme und entspannt sich wohlig. Der Andere müht sich weiter mit der Wiese ab. Kein zusätzlicher Gedanke hat Platz neben der Bewegung der Hände und der ungeteilten Aufmerksamkeit die er seiner Tätigkeit widmet. Eine ganze Weile geht das so: der Vater sitzt in der Sonne und döst, während der andere jätet. Der aufgehängte Sonnenschirm schwingt mit aufkommender Brise in seiner Halterung sachte hin und her. Irgendwann streift der Rand seines Schattens das Gesicht des Vaters: durch die geschlossenen Augenlider wird es dunkel, hell, dunkel, hell, dunkel...  Mit gerunzelter Stirn reißt er schläfrig die Augen auf: "Verdammt! Muss dieser Wind denn gerade jetzt...!" Sein grimmig gewordener Blick fällt auf den gegenüber in seine Arbeit vertieften. "Heda! Was glotzt du so? Du Irrer!", der Angesprochene hebt kaum den Blick. Die Hände greifen eine junge Löwenzahnpflanze und drehen sie mit einem Teil der Wurzel aus der Erde, werfen sie in einen bereitstehenden Eimer: ein Bewegungsablauf der wie mechanisch wirkt - und gleich greifen die Finger nach dem nächsten Pflänzchen, heraudsdrehen, wegwerfen. Hasserfüllt blitzt der Vater zu dem deutlich Gestörten herüber. Irgendjemand muss für die unliebsame Störung seiner Mittagsruhe büßen, da sich die Sonne von seinen Flüchen unbeeindruckt zeigt und einfach weiter auf den schwankenden Sonnenschirm scheint. Angewidert wandert der Blick des Verärgerten über das bunte Schild um dessen Fuß herum der andere sich weiter dem Ausreißen des Unkrauts widmet: "Haus Sonnenschein - Eine Einrichtung der Psychiatrischen Lebenshilfe e.V." verkündet der heitere Schriftzug. "Kuck mal da drüben, du Bekloppter!" ruft der Vater und zeigt zu dem bunten Beet neben dem Eingangstor, "Da ist ja alles voll mit dem Kraut, und niemand kümmert sich drum!", hämisch lächelnd mustert er den Anderen, dessen Aufmerksamkeit sich nun dem Rufer zugewandt hat. Ein fragender Blick tritt in die Augen des Gehandicapten beim Anblick der fröhlich bunten Blumen. Hatte man ihm nicht bedeutet, diese Blumen in Ruhe zu lassen und sich nur um die Wiese zu kümmern? Aber was, wenn der Nachbar recht hätte? So genau erinnert sich der Ewald, so ist sein Name, garnicht mehr. Sicher hat man ihm irgendetwas gesagt, von gelbem Löwenzahn und daß es eine schöne lohnende Arbeit sei. Aber hatte ganz sicher niemand von den Blumen am Tor gesprochen? Der Vater drüben beobachtet die zunehmende Verwirrung im Blick des Anderen, sieht wie der langsam aufsteht, während ein Rest Spucke auf den Latz der Hose tropft. Innerlich triumphiert er schon, wie leicht kann man diese Idioten an der Nase herumführen, dieses verrückte Pack! Warum musste man die auch hier in den Ort bringen, sie gleich vor seiner Nase ansiedeln, wo sie ihn Tag um Tag mit ihren teilnahmslosen, dümmlichen Gesichtern ärgern, und zu grüßen vergessen und es überhaupt an Erziehung und Lebensart fehlen lassen in jeder Hinsicht. Einmal hat sogar jemand von denen an seinen Jägerzaun uriniert! Ganz offen! Und ohne einen Anflug von Scham, sowas geht einfach nicht! - Der Ewald kniet jetzt unsicher neben dem hübschen Blumenbeet da am Tor nieder. Er zögert noch einen Moment bevor er anfängt methodisch und wie nach einer Choreographie alle gelben Blumen auszureißen: herausdrehen, wegwerfen, herausdrehen, wegwerfen. Bei dem Anblick fröstelt es den Vater plötzlich, während der gleiche, kindlich konzentrierte Ausdruck wie vorher in Ewalds Gesicht zurückkehrt und auch die Zunge im Mundwinkel nicht lange ausbleibt. Fast fluchtartig verläßt der Andere seinen Platz auf der Terrasse und zieht sich ins schattige Haus zurück, ganz angefüllt mit dem schalen Geschmack der vergangenen Schadenfreude, irgendwie leer fühlt er sich plötzlich und wie beschmutzt. Als er unterwegs in die Küche ist um sich rasch eine außerplanmäßige Flasche Bier aufzumachen, dreht sich ein Schlüssel im Haustürschloß. "Hallo, Schatz, bist du da? Wir sind schon aus der Einrichtung zurück... dem Jungen gings heute nicht so gut..." Seine Frau kommt herein und zieht an der Hand hinter sich einen erwachsenen Mann mit leicht mongolisch anmutenden Gesichtszügen herein. Der hält ihm zutraulich lächelnd ein Sträußchen knitteriger Löwenzahnblumen entgegen: "Hier, für dich, Papa!" plappert er, während ein wenig Speichel über sein Kinn läuft.

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